Montag, 17. April 2017

Das türkische Referendum und die Auswirkungen auf Deutschland


Nun ist es soweit. Das offizielle Ergebnis des türkischen Referendums besagt, dass Recep Tayyip Erdogan umfangreiche Machbefugnisse erhält, die weit über das hinaus gehen was in weiten Teilen der westlichen Welt als "demokratisch" verstanden wird. Insgesamt haben laut türkischer Regierung 51,4% der Wähler für eine Reform gestimmt. 
Ungeachtet dessen erhebt die Opposition Vorwürfe dass die Wahl manipuliert worden sei; Indizien hierfür wurde über die sozialen Medien verbreitet. 
Auch ohne eine endgültige Bestätigung von Wahlmanipulationen ist aufgrund der immensen Verfolgung der Opposition und der Kontrolle der Medien keine faire Abstimmung möglich gewesen. 

Die Auswirkungen die diese Entscheidung kurz- und mittelfristig auf die Türkei haben können, beispielsweise ein weiterer Rückgang der Urlauberzahlen, Ausbleiben ausländischer Investitionen, Abwanderung (Flucht) von Eliten, weitere Verfolgung von Minderheiten, sind an anderen Stellen lang und ausführlich erörtert.

Die Frage die sich überdies stellt ist: Welche Auswirkung hat diese Entwicklung für Europa, insbesondere direkt für Deutschland?
Es könnte eine verheerende sein.

Zunächst ein paar Zahlen (bitte beachtet dabei dass die Zählweise bei verschiedenen Quellen etwas abweichend bzw. unterschiedlich aktuell ist): 
In Deutschland leben ca. 3 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln. Etwa die Hälfte, also ca. 1,5 Millionen, besitzen die türkische Staatsbürgerschaft.
Dies deckt sich annähernd mit der Zahl der in Deutschland lebenden Wahlberechtigten: Ca. 1,43 Millionen Menschen.

Von den in Deutschland lebenden türkischen Staatsbürgern haben rund die Hälfte Ihre Stimme abgegeben. 

Wer nun erwartet hat, dass insbesondere die in Deutschland lebenden (und teilweise hier sogar geborenen) Türken gegen Erdogan stimmen, wurde bitter enttäuscht. 
Nahezu zwei von drei Wählern aus Deutschland stimmten für die Pläne Erdogans.

Eine Person welche in den vergangenen Monaten einen brutalen Krieg im eigenen Land führt, nach einem Putschversuch mehr als 140.000 Menschen entlassen oder inhaftiert hat (Interessant hierbei: Die ersten Massenverhaftungen gab es direkt nach dem Putsch; woher hatte man so schnell so viele Namen?) - die wird Menschen in Deutschland gewählt?

An dieser Stelle führe ich mal keine Nazi-Vergleiche an, das hat der "Lider" (Deutsch: "Führer") schon selber unzählige Male getan. 

Allerorten wird nun eine "gescheiterte Integration" attestiert, auch wird (für viele Menschen erstmals) die Schuld daran nicht ausschließlich bei der deutschen Gesellschaft sondern auch bei integrationswilligen Menschen gesucht wird. 
Ein Kommentar im Spiegel sieht sogar ein Trotzverhalten: Viele Türken fühlen sich in Deutschland ungerecht behandelt, wählen deswegen Erdogan weil dieser selbst von hier kritisiert wird bzw. andersrum sich gegen Deutschland positioniert. 
Diese Haltung, so unlogisch sie auch ist, zeigt auf welche tiefe Spaltung durch die Gesellschaft in Deutschland geht. Zu dieser Gesellschaft gehören alle Menschen die in Deutschland leben, unabhängig von Nationalität und Herkunft. 

Aus diesen Gründen ist dieses "türkische Problem" nicht nur ein türkisches sondern auch unmittelbar ein deutsches.

Wie geht es nun weiter? 
Das Schlagwort "mehr Integration" wird in den Raum geworfen. Es wird appelliert die "Evet"-Wähler abzuholen, mit ihnen zu sprechen. Die "Hayir"-Wähler sollen wiederum nicht mit ersteren gleichgestellt und ausgegrenzt werden.

Ist das denn realistisch?
Von den Menschen die in Deutschland AfD wählen war noch nie eine Integrationsbemühung zu erwarten. Auch sehr Konservative waren nie die treibende Kraft in diesem Bereich. 
Es waren tendenziell Wähler aus dem sozialdemokratischen, grünen und linken Spektrum die Menschen aus anderen Ländern oder Kulturkreisen die Möglichkeit gegeben haben ein Teil der Gesellschaft zu werden. 

Genau dies sind die Menschen welche in Erdogan einen Autokraten oder (noch schlimmer) Diktator sehen und erschreckende Parallelen zur Machtergreifung Adolf Hitlers erkennen. 
Nun soll die Gruppe die tief enttäuscht ist über das Verhalten der Mehrheit der Türken in Deutschland ihre Bemühungen vergrößern oder zumindest nicht vermindern?

Unter dem Eindruck der jubelnden Erdogan-Anhänger in Berlin wird es schwierig dies umzusetzen.

Meine persönliche Befürchtung für Deutschland ist es nun, dass die Spaltung der türkischen / türkischstämmigen Bevölkerung einen so tiefen Graben in dieser Gruppe hinterlässt, das eine weitere Radikalisierung stattfindet. 
Eine Radikalisierung die schon in den Monaten vor dem Referendum zu einer teilweise extremen Auseinandersetzung in den sozialen Medien geführt hat. So meldete sich unter anderen der in Deutschland lebende Erdogan-kritische Politikwissenschaftler Ismail Küpeli nach Drohungen zeitweise von Twitter ab.

Die Integration in der deutschen Gesellschaft könnte daher weiter zurückgehen. Hieraus entsteht eine Spirale: Wer sich fremd in Deutschland fühlt, wird tendenziell eher radikalen Kräften in die Arme getrieben. Hier fühlt man sich bestätigt, denn bereits 2008 bezeichnete Erdogan eine "Assimilierung" als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Die Türken sollen also kein Teil der deutschen Gesellschaft sein, die Form der Integration ist eher die der türkischen Parallelgesellschaft innerhalb Deutschlands.

Auf der anderen Seite werden bei den bisher eher integrationskritischen bis -feindlichen Gruppen eine Bestätigung gesehen. Auf allen Ebenen der Gesellschaft, also Politik, Wirtschaft und soziales Miteinander, wird daher eine Verschärfung von Ausgrenzung stattfinden. 
Bei den tendenziell eher linkspolitischen Menschen wird mindestens Verunsicherung herrschen. Wie geht man mit einer so großen Gruppe Menschen um die so eindeutig gegen die eigene politische Überzeugung gestimmt hat?
Hier kann man eine andere Situation als Beispiel was passieren könnte heranziehen: Der Umgang mit der AfD. Eine sachliche Auseinandersetzung findet auch hier meist nicht mehr statt. Man redet also tendenziell übereinander statt miteinander. 

Dies droht nun auch zwischen Deutschen und Türken sowie zwischen dem "Evet"- und "Hayir"-Lager. Dies schon ist eine beunruhigende Vorstellung. 
Andere Punkte wie die Situation von Kurden und Aleviten oder die EU-Beitrittsverhandlung ist in dieser Gleichung noch nicht mit einberechnet. 

Auch ich persönlich bin mir noch nicht schlüssig wie ich hiermit umgehen kann. Niemals möchte ich eine Gruppe von Menschen "über einen Kamm scheren", doch weiß ich auch das momentan die Mehrheit der Türken konträr zu den von mir vertretenen Werten stehen. 

Eine fast groteske Situation für einen einzelnen Menschen, für die aktuelle weltpolitische Lage bildet dies eine möglicherweise fatale Gemengelage. 

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